Meiner Meinung nach hat Großbritannien mit der Europäischen Union den besten aller möglichen Deals. Das Land ist Mitglied des gemeinsamen Marktes, ohne zum Euro zu gehören, und ihm wurden Ausnahmen von einer ganzen Reihe anderer EU-Regeln gewährt. Und trotzdem war dies nicht genug, um die britischen Wähler von der Entscheidung für einen Austritt abzuhalten. Warum?

Die Antwort könnte in den Meinungsumfragen vor dem „Brexit“-Referendum zu finden sein. Die europäische Migrationskrise und die Brexit-Debatte haben sich gegenseitig verstärkt. Die Befürworter des Brexit haben die Verschlimmerung der Flüchtlingskrise – symbolisiert durch die Schreckensbilder tausender Asylbewerber in Calais, die verzweifelt und um jeden Preis versuchen, nach Großbritannien zu kommen – für sich ausgebeutet und Ängste vor „unkontrollierter“ Einwanderung aus anderen EU-Mitgliedstaaten geschürt. Und die europäischen Behörden haben wichtige Entscheidungen zur Flüchtlingspolitik verzögert, um einen negativen Effekt auf die britische Abstimmung zu verhindern, aber damit wurden die chaotischen Szenen wie diejenige von Calais noch verlängert.

Die Entscheidung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, die Tore ihres Landes für Flüchtlinge weit zu öffnen, war eine inspirierende Geste, aber nicht gut überlegt, da sie den Pull-Faktor nicht berücksichtigt hat. In der ganzen EU wurden die Menschen durch den plötzlichen Zustrom von Asylbewerbern in ihrem Alltagsleben gestört.

Darüber hinaus hat das Fehlen angemessener Kontrollmechanismen zu einer Panik geführt, von der alle betroffen waren: die lokale Bevölkerung, die für die öffentliche Sicherheit zuständigen Behörden und die Flüchtlinge selbst. Auch wurde durch die Unfähigkeit der Nationalregierungen und der europäischen Institutionen zur Bewältigung der Krise der Weg für den schnellen Aufstieg fremdenfeindlicher antieuropäischer Parteien bereitet – wie der britischen Unabhängigkeitspartei, die sich an die Spitze der Brexit-Kampagne stellte.

Und jetzt ist das katastrophale Szenario, das viele befürchtet hatten, eingetreten und macht den Zerfall der EU praktisch unumkehrbar. Langfristig wissen wir nicht, ob es Großbritannien durch den Austritt aus der EU besser oder schlechter gehen wird als anderen Ländern, aber kurz- und mittelfristig werden die Wirtschaft und das Volk erheblich leiden müssen. Direkt nach der Abstimmung fiel das Pfund auf sein niedrigstes Niveau seit über drei Jahrzehnten, und während des langen, komplizierten Verhandlungsprozesses der politischen und wirtschaftlichen Trennung von der EU werden die weltweiten Finanzmärkte wahrscheinlich unruhig bleiben. Die Folgen für die Realwirtschaft kann man wohl nur mit der Finanzkrise von 2007-2008 vergleichen.

Sicher wird dieser Prozess unter weiteren Unsicherheiten und politischen Risiken leiden, da nicht nur ein realer oder imaginärer Vorteil für Großbritannien auf dem Spiel steht, sondern auch das nackte Überleben des europäischen Projekts. Der Brexit wird die Schleusentore für andere antieuropäische Kräfte innerhalb der Union öffnen. In der Tat war das Ergebnis der Volksabstimmung kaum veröffentlicht, als die französische Nationale Front bereits zum „Frexit“ aufrief und der niederländische Populist Geert Wilders den „Nexit“ proklamierte.

Darüber hinaus kann es passieren, dass Großbritannien selbst nicht überlebt. Schottland, dessen Bürger mehrheitlich für einen Verbleib in der EU stimmten, wird wohl einen weiteren Unabhängigkeitsversuch starten, und einige Regierungsmitglieder in Nordirland, wo die meisten Wähler ebenfalls in der EU bleiben wollen, haben sich bereits für einen Zusammenschluss mit der Republik Irland ausgesprochen.

Eine weitere Fallgrube könnte die Reaktion der EU auf den Brexit sein. Die europäischen Politiker, die andere Mitgliedstaaten davon abschrecken wollen, dem britischen Beispiel zu folgen, werden sicher nicht in der Stimmung sein, Großbritannien Bedingungen anzubieten, die den Trennungsschmerz lindern – insbesondere in Bezug auf den Zugang zum gemeinsamen Markt. Da die Hälfte des britischen Handels mit EU-Ländern stattfindet, könnte der Effekt auf die Exporteure (trotz eines wettbewerbsfähigeren Wechselkurses) verheerend sein. Und da die Finanzinstitute in den nächsten Jahren ihre Geschäfte und ihr Personal in Städte der Eurozone verlagern werden, wird auch der City of London (und dem Londoner Immobilienmarkt) nichts erspart bleiben.

Aber die Auswirkungen auf Europa könnten noch viel schlimmer sein. Die Spannungen unter den Mitgliedstaaten haben die Zerreißgrenze erreicht – nicht nur beim Flüchtlingsthema, sondern auch als Ergebnis außergewöhnlicher Belastungen zwischen Gläubiger- und Schuldnerstaaten innerhalb der Eurozone. Gleichzeitig kümmern sich die geschwächten Regierungen in Frankreich und Deutschland nun hauptsächlich um innenpolitische Probleme. In Italien signalisiert ein Rückgang der Aktienmärkte nach der Brexit-Abstimmung um 10% ganz klar die Anfälligkeit des Landes für eine ausgewachsene Bankenkrise – durch die die populistische Fünf-Sterne-Bewegung, die gerade das römische Bürgermeisteramt in Rom errungen hat, schon nächstes Jahr an die Macht gelangen könnte.

All dies verheißt nichts Gutes für ein ernsthaftes Reformprogramm der Eurozone, das eine echte Bankenunion, eine begrenzte Fiskalunion und viel stärkere Mechanismen für demokratische Verantwortlichkeit umfassen müsste. Und die Zeit ist nicht auf Seiten Europas, da zum internen politischen Streit noch externer Druck aus Staaten wie der Türkei und Russland hinzu kommt – zwei Länder, die die europäischen Unstimmigkeiten zu ihrem Vorteil ausnutzen.

Das ist es, wo wir uns heute befinden. Ganz Europa, darunter auch Großbritannien, würde unter dem Verlust des gemeinsamen Marktes und der gemeinsamen Werte leiden, zu deren Schutz die EU gegründet wurde. Und trotzdem hat die EU einen echten Zusammenbruch erlitten und erfüllt die Bedürfnisse und Ziele ihrer Bürger nicht mehr. Sie bewegt sich auf einen ungeordneten Zerfall hin, der Europa in einem schlimmeren Zustand hinterlassen wird, als der, in dem es wäre, wenn es die EU nie gegeben hätte.

Aber wir dürfen nicht aufgeben. Zugegebenermaßen ist die EU ein fehlerhaftes Konstrukt. Nach dem Brexit müssen wir alle, die wir an die Gründungswerte und -prinzipien der EU glauben, zusammenarbeiten, um die Union durch eine gründliche Umstrukturierung zu retten. Ich bin überzeugt, dass sich uns, wenn in den nächsten Wochen und Monaten die Folgen des Brexit sichtbar werden, mehr und mehr Menschen anschließen.